
Marc Chagall – Leben und Werk
Der untenstehende Text ist ein Auszug aus dem Marc Chagall von Victoria Charles, herausgegeben von Parkstone International.
Wieder einmal hat die Geschichte durch eine unerwartete Wendung in ein Men – schenleben schicksalhaft eingegriffen, und einem Verbannten, der im Exil gestor – ben ist, wird die Heimat wiedergeschenkt. Seit der Ausstellung seiner Werke, die 1987 im Staatlichen Puschkin-Museum in Moskau veranstaltet und vom Publikum begeistert begrüßt wurde, erlebt Marc Chagall eine Wiedergeburt im Lande seiner Herkunft. Es hat sich nun der sehnlichste Wunsch jenes originellsten Künstlers des 20. Jahrhunderts erfüllt – die Liebe „seines Rußlands“ hat er gewonnen. Seine auto biographische Erzählung Mein Leben, die mit der Schilderung seiner Abreise 1922 in den Westen endet, beschloss er mit den Worten: „Vielleicht wird mich Europa liebgewinnen und mit ihm auch mein Rußland“. Dass dem so ist, wird heute durch eine Rückbesinnung auf die Bedeutung Marc Chagalls bestätigt, die von seinem Heimatland ausgeht; dieser Vorgang geht über eine bloße – nur natürliche – Wiedereinverleibung des Künstlers in die heimische Kultur hinaus, sie zeugt von einem unverkennbaren lebendigen Interesse, das in Versuchen zur analytischen Durchdringung seines Werkes Ausdruck findet, die die Chagall-Forschung um neue und eigenständige Deutungen bereichern.

Tretjakow-Galerie, Moskau (Geschenk von G. Costakis)
Durch diese Bemühungen erhalten die Chagall-Studien, denen es vielfach an historisch exakter Dokumen – tierung fehlt, einen wertvollen Beitrag. Denn wie Franz Meyer in seinem grundlegenden Werk betont, das seit seinem Erscheinen im Jahre 1961 als das vollständigste Kompendium auf diesem Gebiet anzusehen ist, bleibt sogar die chronologische Datierung der einzelnen Werke Chagalls problematisch, da der Künstler nur selten und meistens erst a posteriori seine Werke zu datieren pflegte – eine Tatsache, die in Verbindung damit, dass es den Forschern an Vergleichs quellen fehlte und dass sie der russischen Sprache nicht kundig waren, eine Menge Ungenauigkeiten zur Folge haben musste. Zu begrüßen sind deshalb solche Neuer scheinungen wie die Arbeit von JeanClaude Marcadé, der, in die Fußspuren der Pioniere Camilla Gray und Valentina WasjutinskajaMarcade tretend, vor allem auf die Bedeutung der heimatlichen russischen Kultur für Chagalls Schaffen hinweist. Noch erfreulicher müssen uns in dieser Hinsicht die Arbeiten der modernen sowjetischen Kunstforscher erscheinen, diejenigen von Alexander Kamenski und Michail German, mit dem wir nun die Ehre und das Vergnügen haben, einen Dialog zu führen. Trotz alledem ist die Fachliteratur, die sich mit dem Werk Marc Chagalls beschäftigt, sehr reichhaltig. Namhafte Autoren haben über sein Schaffen geschrieben. Von dem grundlegenden Aufsatz von Efros und Tugendhold Marc Chagalls Kunst (veröffentlicht 1918 als Chagall 31 Jahre alt war) bis zum Erscheinen des streng wissenschaftlichen Katalogs Chagall von Susan Compton, der im Todesjahr des Künstlers anlässlich der von der Royal Academy in London veranstalteten ChagallAusstellung herausgegeben wurde, hat es an kritischen Erörterungen seines Werkes nie gefehlt. Das macht aber das Verständnis seiner Kunst keinesfalls einfacher. Die Deutung seines Schaffens, das bald der Pariser Schule, bald dem Expressionismus, dann wieder dem Surrealismus zugeordnet wird, ist voller Widersprüche. Ist es nun wirklich so, dass Chagalls Kunst sich jeglicher Einordnung und ästhetischer Deutung entzieht? Fast könnte man meinen, die Erforschung seiner Kunst sei trotz aller Bemühungen zur Fruchtlosigkeit verdammt angesichts der nur sehr lückenhaften Dokumentation. Manches ging auf den rastlosen Wanderungen unwiederbringlich verloren.

Öl auf Leinwand, 102,5 x 98 cm,
Sammlung Thyssen – Bornemisza, Madrid
Diese Besonderheit des Künstlers, dessen Schaffen sich allem Theoretisieren und allen Klassifizierungsversuchen widersetzt, wird in der folgenden Betrachtung eine Bekräftigung finden. Alles, was zum Geist spricht, alle prophetischen Ideen, alle intuitiven Eingebungen nähren sich vom Worte des Dichters und Philosophen. Vom Worte, wie man es bei Cendrars, Apollinaire, Aragon, Malraux, Maritain oder Bachelard findet. Vom Wort, das uns mit überzeugender Klarheit zeigt, wie schwierig sich ein kritisches Urteil bildet. So behauptet z. B. Aragon 1945: „Jedes Aus drucksmittel hat seine Grenzen, seine Vorzüge und Nachteile. Nichts ist will kür – licher als der Versuch, ein Bild oder eine Zeichnung durch das Wort zu ersetzen. Man nennt es Kunstkritik – eine Sünde, von der ich mich freispreche.“ Das Wort, in dem sich die poetische Natur der Chagallschen Kunst offenbart. Sei es nun im Falle Chagalls noch so berechtigt, die Kritik der Willkür und der Unnatürlichkeit anzuklagen, so fragt man sich doch, ob wir nun überhaupt darauf verzichten müssen, wenn nicht sein Schaffen dessen Geheimnis unantastbar bleibt, so doch wenigstens seine plastischen Erfahrungen und bildnerischen Praktiken zu studieren? Sind wir angesichts seiner eigenwilligen Individualität nur auf lyrische Lobeserhebungen angewiesen? Müssen wir alle ästhetischen Forschungen von vornherein ablehnen oder an dem Gedanken festhalten, dass die Ästhetik aus dem Geistigen entspringt und im ungezwungenen Wechselspiel widers treitender Ideen geboren wird? Wenn dies die Voraussetzung der geistigen Entwick lung ist, so muß die Diskussion, die Bekanntschaft mit den bisher unveröffentlichten Werken und Urkunden aus den sowjetischen Sammlungen und Archiven, mit den Schriften der Kunst historiker unser Wissen bereichern und erweitern. Dadurch aber entsteht die Möglichkeit einer tiefergehenden Erkenntnis dieser wilden und trotzigen Kunst, die sich durch keine Systema tisierungsversuche bändigen oder fesseln lässt. Die im Bildband vorgestellten Gemälde und Zeichnungen werden von Michail German mit großem Einfühlungsvermögen analysiert. Mit Ausnahme von zwei späteren Werken, Die Uhr mit einem blauen Flügel (1949) und Die Zeit ist ein Fluß ohne Ufer (1930/39), entstanden sie alle in der Zeit zwischen 1908 und 1922, als der Künstler Russland für immer verließ

Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris
Die im Bildband vertretenen Werke erlauben es, das chronologische Bild der frühen Schaffens periode zu umreißen. In dem Aufsatz von Michail German wird zu Recht nach – drücklich auf die russischen Quellen hingewiesen, aus denen Chagall schöpfte (z. B. auf den Einfluss des russischen Volksbildes, des sogenannten Lubok); seine Analyse der Zusammen hänge zeichnet sich durch eine seltene Scharfsichtigkeit aus und gründet sich auf eine zwingende Beweisführung. Indem der Verfasser auf den Mechanismus des Erinn erungs vermögens als den Kern der Chagallschen Kunst hinweist, konzipiert er den Haupt begriff seiner nachfolgenden Auslegungen – eine Art musikalisches Zeitmaß, das die plastische Organisation der Chagallschen Werke durchzieht. Dadurch erklärt sich der zyklische Charakter seiner Kunst, die von deutlichen Wiederholungen gekennzeichnet ist (die Frage nach dem „Warum“ bleibt dabei ungelöst) – eine organische Entwicklung, die an die ontolo gische Bedeutung der schöpferischen Tätigkeit denken lässt, von der Berdjajew sprach.

Privatsammlung.
Dieser urtümliche Pulsschlag lebendiger Kunst, der Cendrars und Apollinaire mit Begeisterung erfüllte, dieses ergreifende Heidentum der Malkunst (poien), das dem Künstler seine Gesetze vorschreibt und ihn vor theoretische Aufgaben stellt, scheint darauf hinzuweisen, dass hier im Ethischen und Ästhetischen eine Prädestination waltet, die wir unsererseits etwas klären möchten. Das Weltbild Chagalls offenbart sich unmittelbar in seiner Malerei, in seinen bildnerischen Lösungen, die seiner Individualität zum Ausdruck dienen. Chagall selbst gibt uns durch sein Schaffen den individuell-persönlichen Gehalt seiner Kunst zu erkennen…
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