
Édouard Manet für Geeks: Un Bar aux Folies-Bergère als Manga
Wir sind es gewohnt, Gemälde anzublicken. Was bleibt uns auch übrig? Weniger gewohnt sind wir es, dass die Gemälde unseren Blick erwidern. Édouard „Don’t Call Me Monet“ Manets Kunst tut das unverhohlen. Sie stiert zurück. Meine persönliche Favoritin unter den Manet’schen Blickerwiderern ist die Frau hinter der Theke in Manets letztem großen Werk, Un Bar aux Folies-Bergère (dt. Eine Bar im Folies-Bergère, 1882). In einer japanischen Neuveröffentlichung wurde sie kürzlich im Manga-Look wiederbelebt. Was unterscheidet das Meisterwerk von der Manga-Version?

Suzon, Manets Modell, das tatsächlich im titelgebenden Varietétheater ‚Les Folies-Bergère‘ arbeitete, ist also zu einer Manga-Schönheit geworden, deren Dekolletee genretypisch nicht gerade subtil in Szene gesetzt ist…

Den sexuellen Unterton kann man der Kopie nicht vorwerfen, er findet sich auch im Original. Die Frauen an den Tresen von ‚Les Folies-Bergère‘ waren bekannt dafür, mehr als Spirituosen zu verkaufen. Und finden sich nicht die Farben der Kleidung, des Schmuckes und der Haare Suzons in den Champagnerflaschen links vorne wieder, als wäre auch sie Teil des Warenangebots? Ist nicht auch ihr Ausschnitt in die Bildmitte gesetzt? Findet nicht zu ihrer Rechten gerade ein intimer Austausch zwischen einer Angestellten und einem interessierten Kunden… Moment mal! Ist das nicht Suzon?! Und müssten wir dann nicht der interessierte Kunde sein?

In der japanischen Kopie unnötigerweise durch Glanzeffekte als solcher gekennzeichnet, hängt in beiden Bildern ein Spiegel hinter der Hauptfigur. Suzon kann dort aber unmöglich auf diese Weise nach rechts versetzt erscheinen. Die Perspektive ist bewusst verzerrt. Der Blick auf die Szene im Spiegel wäre uns sonst durch die Hauptfigur verdeckt. Mehr noch: Manet inszeniert das Spiegelbild als zweite, eigenständige Realität und macht es so zur Allegorie auf die Malerei an sich, auf den Widerstreit von Wirklichkeit und Abbild.
Die japanische Nachbildung übernimmt diesen von Velázquez‘ Meisterwerk Las Meninas (1656) inspirierten Kunstgriff als bloße malerische Spielerei.

Manet jedoch führt das Verwirrspiel fort. Die Flaschen vorne links sind untreu im Spiegel wiedergegeben. In der linken oberen Bildecke sind Trapezkünstlerinnenfüßchen angedeutet. Direkt unter ihnen lässt Manet einen Doppelgänger des Galans rechts unverblümt in die Augen des Betrachters schauen. Im Spiegel scheint der Tresen in der Luft zu schweben. Wo ist der Balkonboden? Wo die Balustrade? Zuletzt nimmt auch Suzons liederliches Alter Ego eine andere, ihrem Gegenüber – unserem Spiegelbild – deutlich zugeneigtere Haltung ein als das Original.
![Édouard Manet, Un Bar aux Folies-Bergère (Eine Bar im Folies-Bergère) [Details], 1882. Öl auf Leinwand, 137,3 x 171,6 cm. The Courtauld Gallery, London.](https://i0.wp.com/parkstone.international/wp-content/uploads/2016/06/untitled3-copy.jpg?resize=653%2C266&ssl=1)
Und die japanische Version? Sie ertränkt den Kontrast zwischen der „realen“ Suzon, die ihrer Umwelt, in melancholische Gedanken versunken, ganz entrückt zu sein scheint, und dem bizarren Genrebild im Spiegel, das sie in ihrem allabendlichen Rollenspiel zeigt, in den unvermeidlichen Geek-Details. Die Welt der Manga-Suzon ist eins mit der Welt hinter dem Spiegel. Die Manet-Suzon lebt zwischen den Welten. Wer ist nun fantastischer?

Es existiert eine frühere, perspektivisch bedeutend wirklichkeitstreuere Version des Gemäldes von Manet, die anlässlich der Ausstellung „Manet – Sehen“ noch bis zum 4. September 2016 in der Hamburger Kunsthalle gezeigt wird. Wer des Englischen mächtig ist, kann sich hier mit Manet vertraut machen:
Und dass mir ja keiner glaubt, wir hätten nichts für japanische Kunst übrig:
PR Japanische Farbholzschnitte
Autor: Arik Jahn
