
Naive Kunst in Essen – Von Königen, Putzfrauen, Sklaven und Lustmolchen
Der Begriff ‚Naive Kunst‘ klingt abwertend und er ist es ein Stück weit auch. Naiv sind all diejenigen, die ohne künstlerische Ausbildung Kunst machen, die also – das jedenfalls sagt der Ausdruck – profund keine Ahnung haben von dem, was sie da tun. Die Künstler der Moderne sahen das nicht als Makel, sondern als Qualitätsmerkmal an. ‚Unausgebildet‘ übersetzte sich für sie in ‚nicht akademisch verdorben‘. Der Zöllner Henri Rousseau oder die Putzfrau Séraphine Louis hatten die Konventionen des Kunsthandwerks nie eingebläut bekommen und wurden gerade deshalb zu Helden der klassischen Avantgarden um Picasso, Gauguin und Mondrian. Merke: „Die Naiven waren nicht auch modern, sondern umgekehrt müsste man sagen: die Avantgarde war zu nicht geringen Teilen auch naiv.“ (Michael Köhler, Deutschlandfunk).

Henri Rousseau (1844-1910) war der ungekrönte König der Naiven Kunst. Er malte die wundervollsten Dschungelbilder, ohne das an Dschungeln nicht eben reiche Frankreich je verlassen zu haben. Es ist die Anekdote überliefert, er habe auf einer eigens für ihn und von keinem Geringerem als Pablo Picasso veranstalteten Feier vor versammelter Mannschaft verlautbaren lassen, Picasso und er seien die herausragenden Künstler ihrer Zeit, er für die Moderne und Picasso für den ägyptischen Stil. Ein dermaßen ausgeprägtes Selbstbewusstsein konnten sich andere naive Künstler nicht leisten.
Das Leben der Französin Séraphine Louis (1864-1942) beispielsweise war zweifelsohne filmreif (weshalb man ihr 2008 einen Film widmete, leider mit Ulrich Tukur). Es fügte sich, dass sie als Putzfrau für einen gewissen Wilhelm Uhde arbeitete, einen Kunsthändler, der bereits an Henri Rousseaus naiver Kunst Gefallen gefunden hatte, eines Tages über eines ihrer Werke stolperte und ihr Schaffen fortan unterstützte. Ihre oft großformatigen Bilder schafften es in der Folge bis ins New Yorker Museum of Modern Art, sie selbst jedoch verjubelte ihr Geld und starb schließlich den Hungertod in einer Irrenanstalt in Clermont. Ihre Gemälde galten ihr als Eingebungen. Ich würde es eher ‚Ausbrüche‘ nennen.

Sie und andere wie der Afroamerikaner Bill Traylor (1853-1949), der seine Kindheit in Sklaverei verbrachte, oder der Tscheche Miroslav Tichý (1926-2011), der mit aus alten Brillengläsern, Klorollen, Kaugummi und Gummibändern gebastelten Kameras Frauen in Schwimmbädern nachstellte, sind noch bis zum 10. Januar im Museum Folkwang zu sehen: Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister. Wann gab es je einen besseren Grund, nach Essen zu fahren?

Naive Kunst übrigens haben auch wir auf Lager: Begutachte mich.
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