
Mafiöse Kunstliebhaber oder Wie Giorgio de Chirico zum Godfather of Surrealism wurde
Was denn, die italienische Mafia hat jahrelang die Heimatgemeinde von Don Camillo und Peppone unterwandert?! Unerhört! Doch etwas in mir will ihr vergeben, der italienischen Mafia. Vermutlich der Teil, der die Kochszene in Scorseses Goodfellas liebt; der Teil, der sich diebisch (!) über Nachrichten wie die von einem neu eröffneten Museum in Kalabrien freut, dessen Bestand maßgeblich aus dem konfiszierten Besitz des ehemaligen „Pokerkönigs“ und ‘Ndrangheta-Mitglieds Gioacchino Campolo stammt. Bekannte Namen finden sich dort zuhauf, unter anderem der von Giorgio de Chirico (1888-1978), dem Urvater des Surrealismus. Großartige Kunst, trauriger Hintergrund. Seine besten Bilder entstanden im Krieg.
Was sich der Nietzsche-Fan Giorgio de Chirico Zeit seines Lebens erhielt, war die Fähigkeit, lustig zu gucken. Dass sich Gleiches nicht über die Qualität seiner Bilder sagen lässt, liegt daran, dass er in der Zwischenkriegszeit einen Paradigmenwechsel vollzog: weg von der Avantgarde, hin zum Klassizismus. Es entstanden seltsame, unansehnliche Hybride…

… und geschmacklose Altertümeleien…

Herausragend und wegweisend für die Kunst der Moderne waren jedoch seine frühen Arbeiten.
Der in Griechenland geborene Italiener de Chirico studierte in jungen Jahren Malerei in München und ging anschließend nach Paris. Zwischen 1915 und 1918 – es wütete gerade, einige werden sich erinnern, der Erste Weltkrieg – war er in Ferrara stationiert, einer Kleinstadt der Region Emiglia-Romana. 1917 war er dort in einem psychiatrischen Militärkrankenhaus untergebracht, begründete die metaphysische Malerei und schuf unter anderem die Zeichnung Solitudine, dt. Einsamkeit.

Sie enthält, abgesehen von der antiken Statue, alle charakteristischen Elemente der Kunst des Giorgio de Chirico: die im wahrsten Sinne des Wortes überzeichnete Perspektive, die langen Schatten, die Gliederpuppen, manichini genannt, die den Menschen als Marionette fremder Mächte darstellen, und die Ehrfurcht gebietenden Monumentalbauten.
Der Betrachter erahnt eine diffuse Bedrohung. Der hölzerne, zugleich fragile und fragmentarische manichino unter einem dräuenden Himmel wirkt, als gehörte er hier nicht her. Er teilt sich den weiten Raum mit einer weiteren Figur und ist doch unermesslich einsam. Wer behauptet da, zu zweit wäre man weniger allein?

De Chirico liebte das Rätsel und die bedeutungsvolle Spannung, die aus der Kombination von Dingen entsteht, die unvereinbar scheinen. In Werken wie Solitudine inszenierte er das „zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“, noch bevor es zum Grundprinzip des Surrealismus wurde. Hätte es Dalís Kunst ohne de Chirico gegeben? Mit Sicherheit. Doch sie wäre nicht dieselbe gewesen:

De Chiricos Kunst übrigens ist momentan auch an weniger weit entfernten Orten als Kalabrien zu sehen. Die Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart zur Kunst seiner Kriegsjahre 1915-1918 endet am 3. Juli 2016. Und das Kunstmuseum Winterthur zeigt bis zum 30. Oktober 2016 Zeichnungen italienischer Künstler. Freunde der Zeichenkunst und de Chiricos werden aber auch bei uns fündig:
1000 Meisterwerke der Zeichenkunst
Autor: Arik Jahn

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