BFK, Datum unbekannt, American Graffiti, Margo Thompson
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American Graffiti: Eine Reise in die moderne “Writing”- und “Tagging”-Kunst

Der untenstehende Text ist ein Auszug aus dem American Graffiti (ASIN: B016XN11JG), von Margo Thompson, herausgegeben von Parkstone International.

Kunsthistorikern und -kritikern zufolge gelten Kenny Scharf, Keith Haring und Jean-Michel Basquiat als Graffiti-Künstler, ebenso wie die Maler, die ihre Laufbahnen mit dem Sprayen, dem „Writing“ von Signaturengraffiti, den „Tags“auf New Yorker U-Bahn- Waggons begonnen haben und später in Galerien präsentiert wurden. Die Graffiti-Kunstbewegung begann mit Ausstellungen im Fashion Moda, der Fun Gallery, dem Mud Club und anderen Ausstellungsräumen, die in den frühen 1980er-Jahren eröffnet wurden, und fand Eingang in den etablierten Galerien von SoHo, der 57th Street in Manhattan und auf der Art Basel. Sie endete nur wenige Jahre später, als Händler, Sammler und Kritiker ihre Aufmerksamkeit neuen Trends zuwendeten.

In den zehn Jahren nach dem Höhepunkt der Graffiti-Kunst hatte Basquiat Retrospektiven, eine Stiftung wurde gegründet, die sich Harings Vermächtnis widmete, und Scharf lotet nach wie vor die Grenzen zwischen high art und Popkultur aus. Dessen ungeachtet erhielten die U-Bahn-Sprayer im Großen und Ganzen seitens der Kunsthistoriker und -kritiker der 1980er-Jahre keine dauerhafte Beachtung. Wenn man sie als eigenständige Gruppe von Graffiti- Künstlern betrachtet, die der Bewegung ihren Namen sowie ihre Authentizität gab, können wir einiges über die Art, wie der New Yorker Kunstmarkt der 1980er-Jahre ein subkulturelles, großteils von ethnischen Minderheiten geschaffenes künstlerisches Idiom assimilier- te und die Bedingungen, unter denen es akzeptiert wurde, erfahren.

PRE, Tags as CRISPO, Datum unbekannt, American Graffiti, Margo Thompson
PRE, Tags as CRISPO, Datum unbekannt. Sprühfarbe auf Güterzugwaggon. New York.

Haring machte sich mit seinen cartoonartigen Figuren, die er in U- Bahn-Stationen zeichnete, einen Namen und Scharf bemalte ein oder zwei U-Bahn-Waggons mit Sprayfarbe, nachdem er einige Sprayer kennen gelernt hatte. Beide räumten jedoch ein, dass sie zur Graffiti- Kunst kamen, indem sie, wie Haring sagte, „… die Grenze in die andere Richtung überschritten“, und nicht wie die Sprayer, die ihre Laufbahnen mit dem Taggen von Zügen und öffentlichen Wänden begannen und später ihre Kunst auf permanente Oberflächen übertrugen. Beide studierten an der School of Visual Arts in New York und teilten sich ein Atelier. Haring kam aus dem abgelegenen Städtchen Kutztown, Bundesstaat Pennsylvania, nach New York, und Scharf stammte aus Los Angeles. Sie waren so fasziniert – Scharf erzählte, dass er „… hypnotisiert“ war – von der spontanen Kunst an den Außenwänden der U-Bahn-Waggons, dass sie sich ebenfalls an ähnlichen öffentlichen Oberflächen versuchen wollten . Basquiat hingegen kam in die New Yorker Kunstwelt aus derselben Richtung wie die U- Bahn-Sprayer, er wechselte dann vom öffentlichen Raum in kommer- zielle Ausstellungsräume. Durch das Sprayen von Phrasen unter dem Namen ‘SAMO’ hatte er 1979 eine gewisse Berühmtheit erlangt. In bestimmten Vierteln im Süden Manhattans, besonders in der Nähe von Kunstgalerien, war SAMO allgegenwärtig.

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum U-Bahn-Sprayer nicht die ernsthafte Aufmerksamkeit erhielten, die ihre berühmteren Kollegen genossen. Zum einen wurden die Pieces – farbige, großformatige, einen kompletten U-Bahn-Waggon bedeckende Kompositionen –, die ihre Laufbahnen begründeten und die öffentliche Aufmerksamkeit sowohl positiv als auch negativ an sich zogen, zerstört. Ein weiterer Grund, warum diese Künstler oft übersehen wurden, liegt darin, dass Graffiti mit der Hip-Hop-Kultur in Verbindung gebracht wird. Dadurch ordnete man sie dem Massenmarkt zu und nicht der Kunst. Als das Interesse an Graffiti nachließ, schlugen einige ehemalige Sprayer Laufbahnen als Grafiker ein, während es Scharf, Haring und Basquiat gelang, die Anleihen ihrer Bilder an die Massenmedien zu überwinden und Anerkennung als ernst zu nehmende Künstler zu finden.

Wine, 1985, American Graffiti, Margo Thompson
LASK, Wine, 1985. Sprühfarbe auf Mauer. Staten Island, New York.

Diese unterschiedlichen Laufbahnen wurden bereits früh als Folge der Sprache, die Kritiker für die Analyse der Graffiti-Kunst verwendeten, festgeschrieben: Scharf, Haring und Basquiat wurde ein Platz in der Kunstgeschichte zugewiesen, während dies im Falle der U-Bahn- Sprayer selten geschah. Das bedeutet nicht, dass U-Bahn-Sprayer keine positiven Erwähnungen in angesehenen Kunstzeitschriften gefunden hätten – was auch der Fall war. Aber selbst für ihre Fans haftete ihren Bildern etwas Eigenartiges und Exotisches an. Einer der Sprayer, DAZE, drückte es folgendermaßen aus: „… Graffiti war diese Sprache, die sie oberflächlich kennen lernen, aber nicht fließend spre- chen wollten.“ Dieses Buch möchte diese Sichtweise korrigieren, indem es die Ziele und Leistungen der Sprayer ernst nimmt.

Eine Geschichte der Graffiti-Kunst würde sie auf die Höhlenmalereien von Lascaux, auf römische Latrinalia, Kilroy und anderes anonymes Zeichensetzen zurückführen. Die Ästhetik, die durch diese Genealogie nahe gelegt wird – Bilder und Buchstaben, die in Eile auf öffentliche Wände gekritzelt werden – stellt eine Verbindung zu Malern um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts her, deren Malweise wie bei dem Amerikaner Cy Twombly an Kalligrafie erinnert, oder deren Figuren roh und ungeschult wirken wie bei dem Franzosen Jean Dubuffet. Das Palimpsest, das Graffiti im Laufe der Zeit aufbaut, erinnert an Robert Rauschenberg, dessen Anlagerung von Bildern aus der Massenkultur reichhaltig und vielschichtig ist.

Tatsächlich aber war die Graffiti-Kunst, die sich aus dem Writing auf U- Bahn-Zügen entwickelt hatte, nicht von diesen Künstlern beeinflusst,  zumindest nicht, bis sie von Graffiti-Künstlern entdeckt und, im Falle von Basquiat, von diesen bewusst in das eigene Werk aufgenommen wurde. In der ersten wissenschaftlichen Untersuchung über U-Bahn-Graffiti erklärt der Kunsthistoriker Jack Stewart überzeugend, dass die in New York zum ersten Mal zwischen 1970 und 1978 aufgetauchten Tags und Pieces ein einzigartiges Aufblühen darstellte, das keinen Bezug zu irgendeiner bekannten etablierten künstlerischen Quelle aufwies.

Ohne Titel, 1981, American Graffiti, Margo Thompson
LEE, Ohne Titel, 1981. Sprühfarbe auf Mauer.

Die Sprayer stimmen dem zu: Sogar diejenigen, die schon in jungen Jahren das Ziel hatten, Künstler zu werden, entwickelten ihre Fähigkeiten innerhalb der gut organisierten Sprayer-Subkultur. Außerdem lehnten sie es ab, ihre Werke als „Graffiti“ zu bezeichnen, ein Begriff, der ihnen von der offiziellen Staatskultur, die sie ausmerzen wollte, aufgezwungen wurde. Die Bezeichnung Graffiti definierte das, was sie machten, als kriminellen Vandalismus. Daher bevorzugten sie es, ihr Schaffen als Sprayen (Writing) zu bezeichnen, und ich verwende diesen Begriff so oft wie möglich, um zwischen dem Malen auf Zügen und dem Malen auf Leinwänden zu unterscheiden. Die Sprayer wollten, dass man ihre Bilder nicht als Graffiti bezeichnete, da sie, im Gegensatz zu ihren Tags und Pieces, auf legale Weise und für ein anderes Publikum gemacht wurden.

Zumindest ein Sprayer bemerkte, dass die Definition ihrer Malereien als Graffiti eine Einschränkung ihrer ikonografischen und stilistischen Weiterentwicklung bedeuten würde: Wie weit konnten sich die Bilder verändern und noch unter diesen Begriff fallen? Dennoch akzeptierten Kritiker, Kunsthändler und die Künstler selbst das Etikett Graffiti-Kunst, wenn auch mit unterschiedlicher Begeisterung, und ich verwende den Begriff aufgrund seines historischen Kontexts. Die folgenden Kapitel zeigen die Rahmenbedingungen der Bewegung, indem ihre Pieces (so weit es die dokumentierenden Fotografien erlauben) und Bilder einer formalen Analyse unterzogen werden, die in bisherigen Beschreibungen der Graffiti-Kunst gefehlt hat.

Sprayer entwickelten ihre Stile (Styles) in einem hierarchischen „Lehrsystem“, in dem angehende Tagger mit etablierteren Kollegen Kontakt aufnahmen. Diese beurteilten ihre in Blackbooks angefertigten Zeichnungen, gaben ihnen Tags zum Kopieren und luden sie vielleicht ein, an einem Masterpiece – einer großflächigen Komposition, die einen ganzen U-Bahn-Waggon oder einen Teil davon bedeckte – mitzuarbeiten. Ein junger Sprayer konnte sich einer Crew anschließen, deren Sprayer er bewunderte, und seine Fähigkeiten durch die Verbesserung des Styles der Gruppe unter Beweis stellen. Durch stundenlanges Praktizieren konnte er Spray-Techniken meistern, wurde mit den Paletten verschiedener Sprayfarbenhersteller vertraut, lernte die U-Bahnlinien, Lay Ups und Yards kennen und entwickelte seinen eigenständigen Tagging-Stil. Allmählich könnte er von seinen Kollegen als „King“ einer bestimmten U-Bahnlinie angesehen werden, wenn seine Tags allgegenwärtig und sein Style beeindruckend waren.

BFK, Datum unbekannt, American Graffiti, Margo Thompson
SIEN 5, BFK, Datum unbekannt. Sprühfarbe auf Güterzugwaggon. Zerstört.

Scharf, Haring und Basquiat waren kein Teil dieser gut etablierten und sich ständig erneuernden „Sprayer-Akademie“. Mit Ausnahme einiger Tags in U-Bahnwaggons waren Basquiats öffentliche Writings auf die schwarzen Blockbuchstaben begrenzt, mit denen er als SAMO nihilisti- sche Sprüche schrieb. Haring zeichnete mit Kreide auf das schwarze Papier, das in U-Bahn-Stationen über abgelaufene Werbeplakate geklebt wurde und verwendete dabei ein von ihm selbst entwickeltes Lexikon an Ideogrammen. Scharf malte Graffiti mit Sprayfarbe und imitierte dabei das von ihm bewunderte Writing; er kann aber nicht als Teil dieser Kultur bezeichnet werden. Ästhetik, Bezugsrahmen und Quellenmaterial dieser drei Künstler unterschieden sich wesentlich voneinander und von den U-Bahn-Sprayern.

Auch wenn Graffiti-Waggons nicht mehr auf den New Yorker U- Bahn-Gleisen unterwegs sind, befinden sich dort die meisten Quellen der Graffiti-Kunst. Ich möchte Melanie Bower vom Museum of the City of New York, dem Personal der Fales Library und der Special Collection der Bibliotheken der New York University sowie der New York Public Library für ihre Hilfe danken. Die Sprayer haben mir sehr großzügig ihre Zeit zur Verfügung gestellt: Ich danke BLADE, CRASH, DAZE, LADY PINK und ZEPHYR sowie Mick La Rock in Amsterdam für ihre Geduld, mit der sie meine Fragen beantwortet und meine größten Missverständnisse korrigiert haben. Carlo McCormick und Barry Blinderman teilten ihre Erfahrungen mit Graffiti-Kunst und -Künstlern. Joe Austin gab mir Hinweise und moralische Unterstützung. Tom Check und Nancy Witherell stellten auf meinen Forschungsreisen nach New York Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung. Belinda Neumann, Dolores Ormandy Neumann und Hubert Neumann teilten ihre Begeisterung für Graffiti-Kunst mit mir.

Tag, 1981, American Graffiti, Margo Thompson
SEEN, Tag, 1981. Sprühfarbe auf U-Bahn-Waggon. New York.

In den Niederlanden gewährten mir Henk Pijnenberg, Vincent Vlasblom und Steven Kolsteren sowie die Mitarbeiter des Groninger Museums Zutritt zu ihren Archiven und Sammlungen. Der Dean’s Fund der University of Vermont finanzierte teilweise meine Reisen im Jahr 2007. Ich danke Ernesto Capello, DAZE, Steven Kolsteren, Nancy Owen, Henk Pijnenberg, John Waldron, der unentbehrlichen Emily Bernard und Zephyr für das Lesen und Kommentieren dieses Manuskripts. Eventuelle Fehler und alle Interpretationen sind meine eigenen. Court Thompson gilt meine Dankbarkeit und Liebe.

Entdecken Sie mehr auf:

Urban Nation Museum for Urban Contemporary Art

Museum of urban & contemporary Art – MUCA München

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