Monument der Bürger von Calais, 1889
Art,  Artist,  Deutsch

Auguste Rodin – Der geniale Begründer der modernen Bildhauerei

Der untenstehende Text ist ein Auszug aus dem Auguste Rodin (ISBN: 9781781607336), von Rainer Maria Rilke herausgegeben von Parkstone International.

Auf der wichtigsten jährlichen Kunstausstellung in Paris, dem “Salon”, stellte der Bildhauer Auguste Rodin im Jahr 1898 zwei gewaltige Statuen aus – Der Kuss und Balzac. Er war damals achtundfünfzig Jahre alt und näherte sich dem Höhepunkt seines Ruhmes. Es war sowohl eine Geste der Herausforderung als auch eine für ihn typisch kühne Antwort auf widrige berufliche und private Umstände (seine Geliebte, Camille Claudel, hatte kurz zuvor die Beziehung mit ihm beendet). Eigentlich hatten die Dimensionen des Paares, das sich in Der Kuss umarmt, sehr viel kleiner ausfallen sollen, um auf einem massiven Portal Platz zu finden, das von der französischen Regierung für ein geplantes “Musée des Arts decoratifs” in Auftrag gegeben worden war.

Der verlorene Sohn, um 1886, Auguste Rodin
Der verlorene Sohn, um 1886. Gips, Musée Rodin, Paris.

Rodin hatte an den Türen, bekannt als die Gates of Hell (Höllentor), bereits fast zwanzig Jahre lang gearbeitet; bis sich dann im Jahr 1898 jedoch herausstellte, dass das Museum nie gebaut werden würde. In jenem Jahr gestaltete Rodin das Paar als sehr viel größere Marmorplastik für den “Salon”. Auch die Skulptur des Balzac war ursprünglich ein später abgelehntes Denkmal, das von einer literarischen Gesellschaft 1891 in Auftrag gegeben wurde, um des herausragenden Schriftstellers des neunzehnten Jahrhunderts zu gedenken. Nach sieben Jahren vorbereitender Studien hatte sich Rodin entschlossen, das Werk auszustellen, um seine Kritiker davon zu überzeugen, dass sich das Projekt der Vollendung näherte. Als das für den Auftrag verantwortliche Komitee das grob in Gips modellierte Werk im “Salon” sah, wies es die Arbeit zurück und löste den Vertrag mit Rodin auf.

Zweifellos verströmen beide Werke, so antithetisch ihr Stil auch sein mag, unübersehbar erotische Energien – ein offensichtlicher Hinweis darauf, dass die Erotik, die Sinnlichkeit und die Sexualität einen zentralen Bestandteil im Leben und Werk Rodins darstellten. Gleichwohl ist der erste Eindruck beider Skulpturen natürlich stärker von ihrer Unterschiedlichkeit geprägt. Wenn selbst uns die Vorstellung noch immer in Erstaunen versetzt, dass diese beiden Werke von demselben Menschen geschaffen wurden, so waren die gut gekleideten Pariser Besucher, die sie als Blickfang im “Salon” ausgestellt sahen, zumindest gleichermaßen, wenn nicht noch viel stärker, davon überrascht.

Der ewige Frühling, 1884, Auguste Rodin
Der ewige Frühling, 1884. Bronze, Musée Rodin, Paris.

Der Kuss ist ebenmäßig aus schimmerndem, weißem Marmor gehauen, das Liebespaar idealisiert und als Protagonisten von göttlicher Schönheit dargestellt. Der Balzac dagegen, roh aus Gips geformt (andere Versionen in Bronze und Marmor wurden später angefertigt), ist mit seinem zerklüfteten Profil, seiner rauhen Struktur und einer mehr oder weniger völligen Missachtung anatomischer Details, fehlender Sorgfalt und mangelnder Oberflächenbehandlung von wuchtiger Hässlichkeit. In Der Kuss vollführt das umschlungene Paar eine erregende, beinahe komödiantische Umarmung.

Die Figuren waren ursprünglich von Dantes Liebenden, Paolo und Francesca, deren inzestuöse Beziehung nur zur Verdammnis führen konnte, inspiriert, hier jedoch geben sie nichts von ihrem furchtbaren, tragischen Schicksal preis (Rodin schuf eine andere, dunklere Version für die Türen). Es ist die Frau, die hier die Führung übernimmt – während sie ihren Liebhaber ungestüm umarmt und ihr rechtes Bein über seinen Schoß gelegt hat, berührt er nur zögernd ihre linke Hüfte (in seinen eigenen Liebesbeziehungen übernahm gewöhnlich Rodin die Initiative). Der Balzac lässt keine vergleichbare narrative Deutung zu. Aus der Vertikalen ausscherend, windet sich diese enorme, verzerrte Figur mit unglaublicher Stärke empor – mehr ein Ausdruck der kreativen Kraft des Schriftstellers (und des Bildhauers) als ein eigentliches Abbild der physischen Erscheinung Balzacs. “Ein Monument, nicht ein in Stein reproduzierter Herr”, wie Rodin es selbst formuliert hat.

Eva an der Säule, Auguste Rodin
Eva an der Säule. Bronze, Musée Rodin, Paris.

Dennoch ist den Werken vieles gemeinsam. Beide waren Mittelpunkt von Skandalen und heftiger Ablehnung. Eine kurz zuvor entstandene Version von Der Kuss wurde 1893 aus einer Ausstellung in Chicago entfernt, da die freizügige Umarmung des Paares als ein zu deutliches erotisches Präludium betrachtet wurde, als dass es vom öffentlichen Geschmack akzeptiert werden könnte. Selbst im Jahre 1952 regte sich noch massiver Widerstand gegen die Tate Gallery in London, als sie eine Kopie für ihre ständige Ausstellung ankaufte.

Der Ausschuss, der den Balzac in Auftrag gegeben hatte, beschrieb Rodins Monolithen als “eine formlose Masse, ein namenloses Ding, ein kolossaler Fötus” und wies ihn zurück. Andere Zeitgenossen nannten ihn “eine Kröte in einem Sack”. Der Romanschriftsteller Emile Zola und eine Reihe anderer bedeutender Personen des öffentlichen Lebens unterstützten Rodin und ersuchten die Pariser Behörden erfolglos, die Skulptur für die Stadt anzukaufen. Die Kontroverse wurde dann von dem explosiven politischen Sturm eingeholt, der damals die französische Gesellschaft spaltete: die Dreyfus-Affäre, in der der Staat beschuldigt wurde, bei der antisemitischen Diskriminierung eines jüdischen Offiziers der französischen Armee mitgewirkt zu haben. Jene, die meinten, die Regierung hätte unehrenhaft gehandelt, unterstützten Rodin, und beide Themen wurden in der Presse miteinander vermischt. Auf das wahrscheinlich schockierendste Merkmal der Statue wurde seltener eingegangen.

Sitzendes sapphisches Paar, um 1910, Auguste Rodin
Sitzendes sapphisches Paar, um 1910. Bleistift, Aquarell und Gouache, Musée Rodin, Paris.

In einer vorbereitenden Aktstudie für die Skulptur, die anschließend als eigenständiges Werk in Bronze gegossen wurde, modellierte Rodin einen Mann, dessen Hände seinen erigierten Penis umfassen. Der endgültige Balzac ist bekleidet – eingehüllt in einen Morgenrock, der vor seismischer Kraft zu beben scheint (Balzac arbeitete, wenn er schrieb, sechzehn Stunden am Tag, rauchte unentwegt, trank Unmengen Kaffee und trug dabei einen Morgenrock). Doch unter seinen Falten suggeriert eine Ausbuchtung, dass dieser Balzac genau das gleiche zu tun scheint wie sein Vorgänger. Darüber hinaus ist die Form des Ganzen eindeutig phallisch…

Der Sturm
Der Sturm. Marmor.

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