Schneesturm Hannibal überquert mit seinem Heer die Alpen, 1812
Art,  Deutsch

Turner – der Maler des Lichts – ist der beliebteste englische Künstler der Romantik

Der untenstehende Text ist ein Auszug aus dem Turner – Leben und Meisterwerke (ISBN: 9781783106301), von Eric Shanes herausgegeben von Parkstone International.

Wir blicken über einen von riesigen, glänzenden Felsen umgebenen See. In der Ferne zieht ein schwerer Sturm ab, der eine feuchte Atmosphäre und eine Welt hinterlässt, die in der hellen Sonne des beginnenden Morgens zu dampfen beginnt. Nicht weit entfernt entsteigen Reisende, die der Sturm durchnässt hat, während sie sich auf dem Wasser befanden, einer kleinen Fähre. Ihre Besitztümer und die Ladung liegen über den Strand verstreut. Auf der rechten Seite schnieft ein Mädchen in ein Taschentuch, vielleicht wegen der vor ihr liegenden verschütteten Milch, vermutlich aber doch eher, weil der Sturm ihr eine Erkältung eingebracht hat. Etwas weiter in der Ferne nähern sich weitere Boote, während man am Ende der Landspitze gerade eben die 1388 erbaute und 1638 wieder aufgebaute Kapelle erkennen kann, die dem Gedenken an den schweizerischen Freiheitskämpfer Wilhelm Tell gewidmet ist.

Aufgrund der Unmittelbarkeit des Bildes könnte man meinen, dass es direkt vor Ort gemalt wurde, was allerdings mit Sicherheit nicht zutrifft. Vielmehr entstand es aus einer am Ufer angefertigten leichten Bleistiftzeichnung sowie einer Mischung aus Erinnerungen und Beobachtungen, die nicht notwendigerweise diesen Ort betrafen. Vor allem aber entsprang das Bild einer kraftvollen, leidenschaftlichen und produktiven Vorstellungskraft. Niemand weiß genau, wann Joseph Mallord William Turner Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen, mit Blick auf Bauen und die Tellskapelle, Schweiz malte. Wahrscheinlich stammt das Bild aber aus der Zeit um 1810, als die Schweizreise des damals 35-jährigen Künstlers also bereits etwa acht Jahre zurücklag.

Folly Bridge und Bacon’s Tower, Oxford, 1787, Turner
Folly Bridge und Bacon’s Tower, Oxford, 1787, Feder und Tusche mit Aquarellfarben, 30,8 x 43,2 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London, Vereinigtes Königreich. Die Arbeit ist die Übertragung eines Bildes, das Michael Angelo Rooker für den Oxford Almanach geschaffen hat.

Es handelt sich bei dem Bild um ein Aquarell, ein Medium, das vor Turner erheblich weniger Ausdruckskraft besessen und in erster Linie dazu gedient hatte, die trockenen Fakten über einen Ort und seine Bewohner zu vermitteln. Aufgrund seines großen Formats sowie seiner Kombination aus räumlicher Breite, feinen Details und einem großen tonalen Spektrum könnte man das Aquarell sogar für ein Ölgemälde halten. Dieses Missverständnis würde durch den kunstvollen Goldrahmen, der das Bild seit seiner Entstehung einrahmt, noch verstärkt. Turner wollte den Betrachter vermutlich in die Irre führen.

Benötigt irgendjemand wirklich eine Bestätigung, dass Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen ein herausragendes Kunstwerk ist? Weist das Bild nicht all die ein Kunstwerk definierenden Merkmale auf? Darüber hinaus kann nicht jeder beliebige Künstler ein solches Werk erschaffen. Es handelt sich zweifellos um die Arbeit eines ungewöhnlich begabten Individuums mit großer visionärer Kraft, einer ausgeprägten Sensibilität für die äußere Erscheinung und das Verhalten der natürlichen Welt (zu der der Mensch selbstverständlich gehört), einer vollkommenen Beherrschung der Sprache der Malerei und des gewählten Mediums und nicht zuletzt einem Gefühl sowohl für enorme Breite als auch feinste Details und der Geduld, diese auszuarbeiten.

Helvoetsluys - Die Stadt Utrecht sticht (16)64 in See, RA 1832, Turner
Helvoetsluys – Die Stadt Utrecht sticht (16)64 in See, RA 1832, Öl auf Leinwand, 91,4 x 122 cm, Tokyo Fuji Art Museum, Tokyo, Japan.

In unserer Zeit, in der die kulturelle, soziale und politische Nivellierung (ganz zu schweigen von der Feigheit der Kritik) alles, von einem Urinal, über ein leeres Zimmer, abgeschnittenes Schamhaar bis hin zu Akten der Selbstverstümmelung als Kunst anerkennt, zeigt uns ein Aquarell wie Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen immer noch, dass ein wahres Kunstwerk etwas Magisches, Übermenschliches und Außergewöhnliches ist. Warum diese drei Eigenschaften? Weil jedes herausragende dramatische, musikalische, literarische oder visuelle Werk seine Kraft zweifellos aus etwas jenseits unserer Fähigkeiten bezieht, um uns auf eine Ebene zu heben, die unsere Vorstellungskraft, Gefühle und unseren Intellekt erheblich stärker stimuliert als die profane Welt, in der wir normalerweise leben. Wie viele andere Werke Turners hebt uns Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen mit Leichtigkeit auf diese höhere Ebene.

Turner erweckte zu Beginn der 1790er Jahre, als er noch nicht einmal sein 20. Lebensjahr vollendet hatte, zuerst mit seinen illustrierenden Aquarellen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Als er im Lauf der Zeit seine herausragenden Begabungen als ausgezeichneter Ölmaler, Grafiker und Wasserfarbenmaler entwickelte und perfektionierte, wuchs auch die Bewunderung für seine Werke, so dass im Jahr 1815, in dem auch Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen zum ersten Mal der Öffentlichkeit gezeigt wurde, ein anonymer Autor Turner „… das erste Genie des Tages” nannte.

Innenansicht des Kapitelhauses der Kathedrale von Salisbury 1799, Turner
Innenansicht des Kapitelhauses der Kathedrale von Salisbury, 1799, Bleistift und Aquarell auf weißem Papier, 64 x 51 cm, Whitworth Art Gallery, Universität Manchester, Vereinigtes Königreich.

In einer Zeit solcher schöpferischer Giganten wie Keats, Byron, Goethe, Schubert, Beethoven, Delacroix und vielen anderen war ein solches Kompliment in der Tat keine Kleinigkeit. Es handelte sich auch um keine Übertreibung, denn selbst aus einer solchen hochkarätigen Gesellschaft ragt Turner heraus. Darüber hinaus hat seine Beliebtheit seitdem kaum gelitten, obwohl die von seinen Werken bei Auktionen erzielten Preise zwischen den 1920er und den 1960er Jahren vorübergehend etwas sanken, in der Zwischenzeit sind sie allerdings wieder in die Höhe geschossen. Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen etwa wechselte bei einer Auktion im Juli 2005 in London für fast zwei Millionen Pfund den Besitzer.

Und jenseits des Kunstmarkts wächst die Zahl der Bewunderer Turners ebenfalls stetig. Sie können einfach nicht genug von ihm bekommen. Der Autor des vorliegenden Buches hat 2000/2001 anlässlich des 150. Todestages des 1851 verstorbenen Künstlers in der Royal Academy of Arts in London eine Ausstellung von Aquarellen Turners organisiert, die während ihrer elfwöchigen Laufzeit fast 200 000 Menschen besuchten.

Dido erbaut Karthago; oder der Aufstieg des Karthagischen Reiches, 1815, Turner
Dido erbaut Karthago; oder der Aufstieg des Karthagischen Reiches, 1815, Öl auf Leinwand, 155,5 x 232 cm, Turner Bequest, The National Gallery, London, Vereinigtes Königreich.

In Spitzenzeiten musste man bis zu vier Stunden Schlange stehen, um in die Ausstellungsräume zu gelangen. Ein noch eindrucksvollerer Beweis für Turners Popularität fand sich Anfang 2007, als die Tate Gallery einen Spendenaufruf veröffentlichte, um das Aquarell Der blaue Rigi: Vierwaldstätter See (1842), das auf S. 226 reproduziert ist, erwerben zu können. Das Museum hoffte, von den benötigten 4,8 Millionen £ (Pfund) 300 000 £ unmittelbar von der Öffentlichkeit zu erhalten. Innerhalb von nur fünf Wochen spendeten Turner-Freunde aus aller Welt jedoch mehr als das Doppelte dieser Summe, um ein Werk dieser Qualität für eine wichtige öffentliche Sammlung zu sichern. Auch heute noch erkennen viele Menschen also ein wunderbares Kunstwerk und sind der Meinung, dass es ihnen zusteht und nicht einem einzelnen reichen Sammler…

Einige der vorgestellten Meisterwerke:

Pier in Calais mit französischen „Poissards“, die ausfahren wollen Ankunft eines englischen Paketbootes, 1803, Turner
Pier in Calais mit französischen „Poissards“, die ausfahren wollen: Ankunft eines englischen Paketbootes, 1803, Öl auf Leinwand, 172 x 240 cm, Turner Bequest, The National Gallery, London, Vereinigtes Königreich.
Schneesturm Hannibal überquert mit seinem Heer die Alpen, 1812
Schneesturm: Hannibal überquert mit seinem Heer die Alpen, 1812, Öl auf Leinwand, 146 x 237,5 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London, Vereinigtes Königreich.
Die Überquerung des Baches, 1815
Die Überquerung des Baches, 1815, Öl auf Leinwand, 193 x 165 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London, Vereinigtes Königreich.

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Unsere J.M.W. Turner-Sammlung

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