
Die Jungfrau Maria: Meisterwerke der spirituellen Schönheit, Hingabe und Anmut
Die ersten Marienbilder fanden vermutlich während des zweiten und dritten Jahrhunderts Eingang in die frühchristliche Ikonographie. In dieser Epoche der Menschheitsgeschichte verloren die Frauen zunehmend die ihnen noch verbliebenen gesellschaftlichen Rechte und Machtansprüche; Überreste des alten Matriarchats fielen der herrschenden patriarchalischen Ordnung zum Opfer. Die offiziell anerkannten Evangelien des neuen Testaments wurden von Männern für ein patriarchalisches Gesellschaftssystem verfasst, und diese Texte enthielten nur sehr spärliche Hinweise auf die Madonna. Weder Maria noch ihr Sohn Jesus hinterließen schriftliche Zeugnisse und die unveröffentlichte Fassung des ersten offiziellen Evangeliums, vermutlich von Markus geschrieben, wurde im Jahr 66 vervollständigt. Die zweite offizielle Fassung des Evangeliums wurde offenbar von Lukas im Jahr 80 niedergeschrieben, ihr folgte wenig später die Fassung von Matthäus. Es ist jedoch auch durchaus möglich, dass die Fassung von Johannes, die etwa aus dem Jahr 37 stammt, tatsächlich die erste war, da sie mehr Einzelheiten enthält; was wiederum den Schluss zulässt, dass diese Fassung die realen Vorkommnisse im Leben Marias und ihres Sohns aus größerer zeitlicher Nähe wiedergibt.

Diese Berichte, und hier vor allem die Geschichte Jesu, erwähnten seine Mutter nur selten und konnten alle jene Menschen, die sich trotz der Trivialisierung der Frauen durch das Patriarchat verzweifelt nach einer weiblichen göttlichen Gestalt sehnten, um sie zu verehren und anzubeten, nicht befriedigen. Das Verlangen nach einer mächtigen, jedoch verzeihenden Grossen Mutter ließ sich nicht zum Schweigen bringen und die Göttinnen der alten Religionen wie Isis, Cybele, Demeter, Aphrodite und Athene wurden weiter verehrt. Der Kult der Isis war vermutlich am weitesten verbreitet und stellte eine starke Bedrohung für die junge christliche Religion dar. Ihr fehlte eine eigene Große Mutter, die in den frühen Deutungen des Heiligen Geistes eine weibliche Gestalt annahm, die der Sophia als Weisheit Gottes. Zu den mächtigen weiblichen Archetypen der herrschenden neuen patriarchalischen Religion trat bald die alle überragende Maria, die Gottesmutter, hinzu. Von Beginn an wurde die Madonna als Symbol für die Mutter Kirche selbst gesehen..
In der Folge wurde der Kult Marias geboren, der sich auf die kärglichen Informationen in den vier offiziell anerkannten Evangelien stützte sowie auf Rückschlüsse, die man aus der Offenbarung und Informationen aus den apokryphen Schriften gezogen hatte.

Diese offiziell nicht anerkannten und später entstandenen Schriften, Nachahmungen der früheren Evangelien, enthielten mehr Information über das Leben Marias, ein Umstand, der auf das wachsende Bedürfnis der christlichen Anbeter hinweist, sie zu feiern und zu verehren. Durch die Zusammenführung aller aus diesen Quellen gewonnenen Erkenntnisse und die zusätzliche Ausschmückung mit volkstümlicher, oft aus den Mythen der früheren Göttinnen übernommener Mythologie, entstand schließlich der Marienkult in seinem Formenreichtum. Das wichtigste patriarchalische Argument der Jungfräulichkeit Marias und der jungfräulichen Geburt findet jedoch nur kurz in zwei der anerkannten Evangelien Erwähnung – im Matthäus- und im Lukasevangelium. Es ist möglich, dass das Wort “Jungfrau” oder Almah, das in diesen Texten verwendet wird, nicht eine virgo intacta bezeichnete, sondern einfach ein Ausdruck für eine junge Frau war, was als Argument gegen den Beweis der jungfräulichen Geburt in den folgenden Jahrhunderten gelten kann.
Die Präsenz Marias war für die allgemeine Akzeptanz des Christentums in Europa in Ost und West entscheidend; ihre Anwesenheit schuf eine Brücke zwischen den Anhängern der Religionen, die eine matriarchalische Göttin verehrten und dem neuen patriarchalischen Kult. Schrittweise entwickelte der Klerus eine komplexe marianische Lehre, um den Bedürfnissen und Wünschen der Gläubigen, diese Gottheit anzubeten und zu verehren, gerecht zu werden. In vielen Fällen blieben die offiziell verkündeten Dogmen hinter dem Volksglauben und den künstlerischen Darstellungen Marias um mehrere Jahrhunderte zurück. Die Künstler hatten jedoch immer ein offenes Ohr für die Anliegen der Menschen und entwickelten eine Sammlung von Symbolen, Archetypen und Themen, mit deren Hilfe sie die Ereignisse im Leben der Heiligen und die mit der Lehre von Maria verbundenen Vorstellungen kunstvoll interpretierten. Zum christlichen Dogma der Frühzeit gehörte jedoch noch eine weitere mächtige weibliche Figur, die geheimnisvolle Sophia oder das Wort Gottes, als weibliches Element in der Schöpfung. Ihr wurden viele frühe Bilder gewidmet und Maria, die Mutter Gottes, wurde oft als Maria/Sophia dargestellt.

Hinzu kam, dass die Parallelen zwischen den Bildern Marias und denen der anderen Göttinnen zur Akzeptanz des Christentums durch einen großen Teil der mittelalterlichen Bevölkerung beitrugen, die bis dahin Isis und andere weibliche Götter verehrt hatte. Diese Entwicklung einte und festigte das Christentum als herrschende Religion sowohl im östlichen wie im westlichen Europa. Die marianischen Künstler übernahmen sogleich zahlreiche Symbole der Göttinnen zu ikonographischen Zwecken und trugen so dazu bei, die Zweifel der Gläubigen zu zerstreuen, die sich fragten, ob ihre Universale Mutter etwa weniger bedeutend sei als die weiblichen Gottheiten früherer Religionen.
In der Zwischenzeit wurden als Antwort auf die Forderungen der christlichen Bevölkerung nach einem weiblichen göttlichen Prinzip Ikonographie, Kult und Dogma Marias ständig erweitert und verfeinert.
Den Kirchenvätern war jedoch deutlich bewusst, dass ihre asketische Religion, die Sexualität als eine Form des Bösen und Frauen mehr noch als Männer als sexuelle physische Wesen betrachtete, die Jungfräulichkeit Marias stärken und erneut bestätigen musste, um sie von den übrigen Frauen zu isolieren, die, einer verbreiteten Auffassung zufolge, als böse galten und noch weit unter den Männern rangierten. Da nur ein vollkommenes Wesen einen göttlichen Sohn hervorbringen konnte, wurde nicht nur die ewige Jungfräulichkeit der Madonna, sondern auch ihre eigene unbefleckte Empfängnis oder Geburt, frei von Erbsünde, von den gleichen Kirchenvätern diskutiert und zum Dogma erhoben, die auch verhinderten, dass Frauen zum Priestertum zugelassen wurden.

Der Mythos der jungfräulichen Geburt ist nicht allein im Christentum zu finden. In vielen alten und heidnischen Religionen bringt eine Göttin ohne Hilfe eines Gottes eine Tochter oder einen Sohn hervor, ein als Parthenogenese bekanntes Phänomen. Während im prähistorischen Europa und in seinem Umkreis der Schöpfer in weiblicher Form verehrt wurde, vervielfältigte sich in späterer prähistorischer Zeit die Große Muttergöttin, indem sie die erste männliche Gottheit hervorbringt, ihren Sohn. Später, bei den alten Griechen und Römern, erheben viele Helden und andere bedeutende männliche Gestalten der Geschichte Anspruch darauf, von einer Frau durch die Macht des Heiligen Geistes geboren worden zu sein.
Mehrere Versionen des frühen christlichen Geburtswunders gehen auf die ersten Theologen zurück. Da das Geschlecht des Heiligens Geistes noch unklar war, wurde er in Osteuropa als Muttergöttin gesehen, die von Marias Körper Besitz ergreift bis zu dem Tag, an dem das Kind geboren wurde. Die Taube – das Symbol des Heiligen Geistes – war bei den Griechen und Römern heilig als Symbol der Aphrodite, der Göttin der Liebe. Der Genuswechsel von “sie” zu “er” in der lateinischen Sprache verwandelte den Heiligen Geist in einen männlichen spiritus sanctus und in Westeuropa erschienen erste Bilder des Verkündigungsthemas mit männlicher Ikonographie, die bald zur korrekten Auslegung des Dogmas erhoben wurde.



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